DIGITALE LESE-/VORLESESTUNDE FÜR JUNG BIS ALT
HEIMAT-FLUCHT-FREMDE-ANKOMMEN-FRIEDEN-HEIMKEHR
LIEBE LESER, VORLESER UND ZUHÖRER!
Gern lasse ich den interessierten wochenklick-Leser teilhaben an meiner Präsenz-Vorlesestunde im Seniorenzentrum Martha-Maria in Eckental-Forth unter dem generationenübergreifenden Motto „Vorlesen–Zuhören–Erinnern–Reden“ zum Thema „Heimat–Flucht–Fremde–Ankommen–Frieden-Heimkehr“.
Den folgenden Brief hat die deutsch-iranische Schriftstellerin Asal Dardan, die vor etwas mehr als 40 Jahren mit ihren Eltern als Kleinkind aus dem Iran nach Deutschland geflohen ist, ihrer 2022 aus der Ukraine nach Deutschland geflohenen Schriftstellerkollegin Daryna Gladun geschrieben. Der Brief mit der Überschrift "Das Seidentuch meiner Großmutter" wurde u.a. veröffentlicht von „wirmachendas.jetzt“ sowie im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Die Genehmigung zur Veröffentlichung auf meinem wochenklick-account wurde mir freundlicherweise erteilt.
**************************
DAS SEIDENTUCH MEINER GROSSMUTTER
Liebe Daryna,
… Auf der Startseite der deutschen Nachrichtensendung Tagesschau stehen derzeit an erster Stelle zwei Schwerpunkte nebeneinander: die Ukraine und der Iran. Die beiden Länder, in denen wir zur Welt gekommen sind, liebe Daryna. Du berichtest in Deinem Brief, wie Du am 24. Februar Dein Land verlassen hast, welche Odyssee Du seitdem in Deinen Schuhen hinter Dich gebracht hast. Du schreibst, wie wichtig Dir all jene Kleidungsstücke sind, die Du bereits in Deiner Heimat besessen hast; dass Du Dich an ihnen und auch am Krieg festklammerst wie an einem Faden, der Dich mit Deiner Familie und Deinem Zuhause verbindet. Ich wünsche Dir, dass Kleidung bald nur noch Kleidung ist und dieser Faden sich wieder in Frieden verwandelt. Ich weiß, dass die Gewalt und Aggression, die mit dieser Invasion in Dein Land kamen, dadurch nicht ungeschehen gemacht werden. Aber aufhören sollen sie, damit der Schrecken von der Zukunft abläßt. Erinnern muss man sich so oder so.
… Die Schuhe, die ich an jenem Tag der Flucht mit meinen Eltern getragen haben mag, waren kaum mehr als ein Accessoire. Ich hatte zwar noch im Iran das Laufen gelernt, aber an jenem Tag bin ich wahrscheinlich vor allem getragen oder in einem Kinderwagen gefahren worden. Was meine Eltern auf ihrer Flucht aus dem Iran nach Deutschland mitgebracht haben, weiß ich nicht. Es kann nur sehr wenig gewesen sein. Ich weiß auch nicht, ob sich noch irgendetwas davon in ihrem Besitz befindet. Seitdem sind über vierzig Jahre vergangen.
Ich besitze ein einziges Kleidungsstück, das für mich eine Verbindung zu meiner Herkunft darstellt, auch wenn es vermutlich noch nie im Iran getragen wurde. Es ist eines der Seidentücher meiner Großmutter, ein schwarz-weiß gemustertes. Sie trug es als Kopftuch, wie es auch andere Christinnen tun. Sie nahm es nie ab, auch nicht zu Hause oder im Kreis der Familie. Sie lebte im Irak und im Iran, einige Jahrzehnte in Schottland und die letzten Jahre ihres Lebens in den USA und in Deutschland. Man würde sie dennoch nicht als Kosmopolitin bezeichnen. Sie hatte keine nennenswerte Schulbildung, sprach kaum Englisch, setzte sich nicht in Bezug zu ihrem Umfeld. Ich kann mir meine Großmutter nicht allein auf der Straße vorstellen, wie sie bummeln gegangen wäre oder sich mit Freundinnen in einem Café getroffen hätte. Ihr Leben war ein begrenztes Leben in einem Zuhause, das jemand anderem gehörte. Sie führte ein Leben für andere – ihre Eltern und Geschwister, ihren Ehemann, ihre Kinder, ihre Enkelkinder.
Ich trage ihr Tuch immer um den Hals, wenn ich krank werde. Ich trage es so lange, bis ich mich wieder gesund fühle. Mit diesem Ritual habe ich mir einen Faden erdacht.
Grotesk, dass es genau solch ein Stück Stoff ist, das seit nunmehr 43 Jahren symbolisiert, wie Frauen im Iran schikaniert, unterdrückt und sogar straffrei ermordet werden können. Durch die Flucht meiner Eltern wurde ich vor einem Leben in solchen Verhältnissen bewahrt. Geblieben sind mir Echos meiner Muttersprache und ein Gefühl der Verantwortung, dem ich nicht gerecht werde. Der Iran ist nicht mein Land und schon gar nicht mein Zuhause.
Aber die Menschen gehen mich etwas an.
Darum widerspreche ich nicht, wenn man mich eine deutsch-iranische Autorin nennt. Vermutlich ist auch das kaum mehr als ein erdachter Faden, aber er kreiert eine Verbundenheit, die mir viel bedeutet.
… In den letzten Wochen habe ich mich intensiv mit Menschen ausgetauscht, deren Familiengeschichten in den Iran und nach Kurdistan führen. Bei diesen Begegnungen geht es nicht um Herkunft, sondern um Zusammenhalt. Sie helfen gegen das Gefühl des Kleinseins.
... Schickst Du mir ein Foto von Deinen Schuhen, die Du auf der Flucht getragen hast?
Deine Asa
************************
Nach einer kurzen Zeit der Stille haben sich die berührten und nachdenklich gewordenen Zuhörer im Seniorenzentrum Martha-Maria an so manche vergleichbare Begebenheit, die sie früher in ihrer Kindheit und/oder Jugend selbst erlebt haben, erinnert und sie kamen ins Erzählen. Viele Gefühle kamen auf, besonders aber Dankbarkeitsgefühle für nunmehr 78 Jahre Frieden in Deutschland. Es ist schön, gemeinsam zu erleben, dass man beim Vorlesen und Zuhören automatisch über seine eigenen vielfältigen Erfahrungen nachdenkt und auch über sich selbst redet. Wer das bisher noch nicht so richtig erlebt hat, der probiere es doch recht bald aus, am besten in einem vertrauensvollen Umfeld. Das ist eine ganz besondere Erfahrung, die Herz und Seele gut tut. Geteilte Freude ist doppelte Freude - Geteiltes Leid ist halbes Leid!
Liebe Leser, Vorleser und Zuhörer,
ich wünsche uns allen viele gute, gemeinschaftliche Gefühle im Miteinander und Füreinander!
Ade und Tschüss und weiterhin viel Freude beim gemeinsamen Lesen, Vorlesen, Zuhören, Erinnern und Reden!
Annegret Schildknecht
ehrenamtliche -Vorleserin, -Hospizbegleiterin, - Klinikseelsorgerin, -Telefon-Patin / Kunst-undKultur-Patin gegen Einsamkeit im Alter
Hinweis:
Das COPYRIGHT für alle FOTOS liegt bei Dr. Manfred Schildknecht.
Alle Beiträge zu meinen digitalen Vorlesestunden siehe hier(bitte anklicken)
oder unter:
www.wochenklick.de/vorlesen
www.wochenklick.de/kuk und klick
Autor:Annegret Schildknecht aus Eckental |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.