DIGITALE LESE-/VORLESESTUNDE FÜR JUNG BIS ALT
Legenden aus biblischen Zeiten

Tulpenblüte | Foto: Dr. Manfred Schildknecht
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LIEBE LESER, VORLESER UND ZUHÖRER!

Gern berichte ich hier nachfolgend dem interessierten wochenklick-Leser von meiner kürzlichen Vorlesestunde mit Livemusik, gespielt von Heinrich Auerswald am Flügel im Festsaal des Seniorenzentrum Martha-Maria in Forth. Dabei genossen die Zuhörer, ebenso wie ich als Vorleserin und der Pianist, das gemeinsame Interesse an den Texten und an der Musik und die schöne, entspannte Stimmung. Auch Zuhause können wir das Zusammensein mit unseren Lieben beim gemeinsamen Lesen, Vorlesen und Zuhören und die besondere Stimmung und das besondere Gemeinschaftsgefühl, das dabei entsteht, genießen. Ein zusätzliches Vergnügen ist auch das Betrachten von schönen Buchillustrationen, das gemeinsam genossen noch schöner ist. Es bestätigt sich immer wieder: Geteilte Freude ist doppelte Freude! 

Die Bewohner wurden erfreut mit berührenden Geschichten und Gedichten. Die klassischen Musikstücke von Bach, Händel, Schubert und Schumann weckten gute Erinnerungen und positive Gefühle.
Die auf andere Art erzählten Geschichten aus biblischen Zeiten über die Reise nach Bethlehem und die Flucht nach Ägypten, die Maria, Joseph, das Jesuskind und Marias kleiner Esel zusammen bewältigt haben, zogen die volle Aufmerksamkeit der Zuhörer auf sich. Die auf alten Legenden basierenden Geschichten, gesammelt und aufgeschrieben von der schwedischen Schriftstellerin Selma Lagerlöf (1859-1940), fesselten und bewegten die Herzen und Sinne.
- Die Bewohner waren beeindruckt zu hören, dass Selma Lagerlöf 1909 die erste Frau war, die den Nobelpreis für Literatur bekommen hat und reagierten mit: "Endlich auch eine Frau!" und "Warum vorher immer nur Männer?" ... -
Die in den Geschichten behandelten Themenkomplexe wie „Frieden“, „Gottvertrauen“ und „Dank“, aber auch „Armut“ und „Flucht aus der Heimat“ zeigten auf, wie groß besonders die Sehnsucht nach Frieden auch in früheren Zeiten war und bis heute immer noch ist.

Lesen Sie hier nachfolgend die alte Legende "Die Flucht nach Ägypten", in der aus der Perspektive einer alten, mächtigen Palme die Geschehnisse in der Wüste während der Flucht von Maria und Joseph und dem Jesuskind von Bethlehem nach Ägypten geschildert werden:

Wie nun die große Palme hinaus über die Wüste schaute, erblickte sie eines Tages zwei Fremdlinge. Es waren ein Mann und ein Weib, ohne Begleiter und ohne Wasserträger, und die Palme sagte zu sich selbst: »Diese beiden sind hergekommen, um zu sterben.
Es wundert mich, dass die Löwen nicht schon zur Stelle sind, um diese Beute zu erjagen. Ihrer harret ein siebenfältiger Tod,« dachte die Palme.  »Die Löwen werden sie verschlingen, die Schlangen sie stechen, der Durst sie vertrocknen, der Sandsturm sie begraben, die Räuber sie überfallen, der Sonnenstich sie verbrennen, die Furcht sie vernichten.«
Das Schicksal dieser Menschen stimmte die Palme wehmütig.
»Bei der Dürre und dem Sturm!« sagte sie, des Lebens gefährlichste Feinde anrufend, »was ist es, das dieses Weib auf dem Arm trägt? Ich glaube gar, sie führen auch ein kleines Kind mit sich.«
Die Palme, die weitsichtig war, wie es die Alten zu sein pflegen, sah wirklich recht. Die Frau trug auf dem Arm ein Kind, das den Kopf an ihre Schulter lehnte und schlief.
»Das Kind ist nicht einmal ausreichend bekleidet,« fuhr die Palme fort. »Ich sehe, dass die Mutter ihr Kind in großer Hast aus seinem Bette gerissen und mit ihm fortgestürzt ist. Jetzt verstehe ich: Diese Menschen sind Flüchtlinge.
»Ich kann mir denken, wie alles zugegangen ist. Der Mann stand bei der Arbeit, das Kind schlief in der Wiege, die Frau war rausgegangen, um Wasser zu holen. Als sie zwei Schritte aus der Türe gemacht hatte, sah sie die Feinde angestürmt kommen. Sie ist ins Haus zurückgestürzt, sie hat das Kind an sich gerissen, dem Manne zugerufen ihr zu folgen, und sie sind sofort aufgebrochen. Dann sind sie den ganzen Tag auf der Flucht gewesen, sie haben ganz gewiss keinen Augenblick geruht. Ja, so ist alles zugegangen, aber ich sage dennoch, dass ein Engel sie beschützt haben muss.
Ich sehe, wie der Durst aus ihren Augen leuchtet. Ich kenne sehr wohl das Antlitz eines dürstenden Menschen.
Wenn ich den Flüchtlingen raten könnte, ich würde sie bitten, umzukehren. Ihre Feinde können niemals so grausam gegen sie sein wie die Wüste.
Die Palme fuhr fort, laut zu denken, so wie die Alten es oft zu tun pflegen.
»Ich höre ein wunderbar melodisches Sausen durch meine Krone eilen. Dieses betrübte Weib ist so schön. Sie führt mir das Wunderbarste, das ich bisher erlebt habe, wieder in Erinnerung. Vor sehr langer Zeit waren zwei strahlende Menschen Gäste der Oase gewesen waren. Es waren die Königin von Saba und der weise König Salomo. Die schöne Königin von Saba sollte wieder in ihr Land heimkehren, der König Salomo hatte sie ein Stück des Weges geleitet, und nun sollten sie sich trennen.
Zur Erinnerung an diese Stunde setzte die Königin einen Dattelkern in die Erde und sagte: »Ich will, dass daraus eine Palme werde, die wachsen und leben soll, bis im Lande Juda ein König ersteht, der größer ist als König Salomo.« Und als sie dieses gesagt, hatte sie den Dattelkern in die Erde versenkt, und ihre Tränen hatten ihn benetzt.
»Woher mag es kommen, dass ich gerade heute an dieses denke?« fragte sich die Palme. »Sollte diese Frau so schön sein, dass sie mich an die herrlichste der Königinnen erinnert, an sie, die Königin von Saba, auf deren Wort hin ich gewachsen bin und gelebt habe bis zum heutigen Tage?
»Ich höre meine Blätter immer stärker rauschen, und es klingt wehmütig. Es ist, als weissagten sie, dass bald etwas aus dem Leben scheiden solle. Es ist gut, zu wissen, dass es nicht mir gilt, da ich nicht sterben kann, bevor ein König ersteht, der größer, mächtiger und weiser ist als der König Salomo.«
Die Palme nahm an, dass das Todesrauschen in ihren Blättern den beiden einsamen Wanderern mit ihrem Kind gelten müsse. Ganz gewiss glaubten auch diese selbst, dass ihre letzte Stunde nahte. Man sah es an dem Ausdruck ihrer Gesichtszüge, als sie an einem der Kamelskelette vorbeiwanderten, die am Wegesrand lagen. Und man sah es an den Blicken, die sie ein paar vorbeifliegenden Geiern nachsandten.
Es konnte ja nicht anders sein. Sie waren verloren.
Dann hatten der Mann und die Frau die Palme und die Oase erblickt und eilten nun darauf zu, um Wasser zu finden. Aber als sie endlich herankamen, sanken sie in Verzweiflung zusammen, denn die Quelle war ausgetrocknet.
Das Weib legte ermattet das Kind nieder und setzte sich weinend an den Rand der Quelle. Der Mann warf sich neben ihr hin, er lag da und hämmerte mit seinen beiden Fäusten auf die trockene Erde. Die Palme hörte, wie sie miteinander davon sprachen, dass sie nun wohl sterben müssten.
Sie hörte auch aus ihren Reden, dass König Herodes alle Kindlein im Alter von zwei bis drei Jahren töten ließ, aus Furcht, dass der große, erwartete König von Judäa geboren sein könnte.
»Es rauscht immer stärker in meinen Blättern,« dachte die Palme. »Diese armen Flüchtlinge sehen bald ihr letztes Stündlein.«
Sie hörte auch, dass die beiden die Wüste fürchteten. Der Mann sagte, dass es besser gewesen wäre, zu bleiben und mit den Kriegsknechten zu kämpfen, als zu fliehen. Sie würden so im Kampf einen leichteren Tod gefunden haben als in der Wüste.
»Gott wird uns beistehen!« erwiderte die Frau.
Und der Mann sagte: »Wir sind einsam unter Raubtieren und Schlangen. Wir haben nicht Speise und Trank. Wie soll Gott uns beistehen können?«
Er zerriss seine Kleider in Verzweiflung und drückte sein Gesicht auf den Boden. Er war ohne Hoffnung, wie ein Mann mit einer Todeswunde im Herzen.
Die Frau saß aufrecht, die Hände über den Knieen gefaltet. Doch die Blicke, die sie über die Wüste warf, sprachen von einer Trostlosigkeit ohne Grenzen.

Die Palme hörte, wie das wehmütige Rauschen in ihren Blättern immer stärker wurde. Die Frau musste es auch gehört haben, denn sie richtete die Augen hinauf zur Baumkrone. Und zugleich erhob sie unwillkürlich ihre Arme und Hände und rief entzückt:
»Oh, Datteln, Datteln!«
Es lag eine so große Sehnsucht in ihrer Stimme, dass die alte Palme gewünscht hätte, ihre Datteln wären so leicht erreichbar wie die Hagebutten des niedrigen Dornenstrauchs.
Der Mann hatte schon gesehen, wie unzugänglich hoch die Datteln hingen. Er hob nicht einmal den Kopf. Er bat nur die Frau, sich nicht nach dem Unmöglichen zu sehnen.
Aber das Kind, das für sich selbst umher getrippelt und mit Gräsern gespielt hatte, hatte den Ausruf der Mutter gehört.
Der Kleine konnte sich wohl nicht denken, dass seine Mutter nicht alles bekommen sollte, was sie sich wünschte. Sowie Maria von Datteln sprach, begann er den Baum anzugucken und überlegte und grübelte, wie er die Datteln herab bekommen sollte. Endlich huschte ein Lächeln über sein Gesicht und er ging auf die Palme zu und streichelte sie mit seiner kleinen Hand und sagte mit süßer Kinderstimme: »Palme, beuge dich! Palme, beuge dich!«

Aber, was war das? Die Palme fühlte, dass das kleine Kind Macht über sie hatte. Und sie beugte sich mit ihrem hohen Stamm vor dem Kind, so wie Menschen sich vor Königen beugen. Das Kind kam mit einem Freudenruf und löste Traube um Traube aus der Krone der alten Palme.
Als das Kind genug genommen und der Baum noch immer auf der Erde lag, ging das Kind wieder heran, liebkoste den Baum und sagte mit der holdesten Stimme:
»Palme, erhebe dich, Palme, erhebe dich!«
Und die große Palme erhob sich still und ehrfürchtig auf ihrem biegsamen Stamm. 
Aber der Mann und das Weib lagen auf den Knieen und dankten und priesen Gott:
»Gott, du hast unsere Angst gesehen und sie von uns genommen. Du bist der Starke, der den Stamm der Palme beugt wie schwankendes Rohr. Vor welchem Feinde sollen wir erbeben, wenn deine Stärke uns schützt?«

Als das nächste Mal eine Karawane durch die Wüste zog, sahen die Reisenden, dass die Blätterkrone der großen Palme verwelkt war, sie sahen, dass die alte Palme gestorben war.
»Wie kann das sein?« fragte ein Wanderer. »Diese Palme sollte doch nicht früher sterben, als bis sie einen König gesehen hat, der größer ist als König Salomo.«
»Vielleicht hat sie ihn gesehen ...« antwortete ein anderer der Wüstenfahrer.

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Zum Schluß der Vorlesestunde im Seniorenzentrum Martha-Maria habe ich unter dem Motto „Neues Jahr – Neues Glück“ Vorschläge für ein Gelingen des neuen Jahres nach einem Rezept von Goethes Mutter (1731-1808) vorgetragen: „Man richte jeden Tag an mit einem Teil Arbeit und zwei Teilen Frohsinn und Humor und füge mit leichter Hand Optimismus, Toleranz und Nächstenliebe hinzu, alles begleitet von einem Lächeln. Man freue sich des Lebens, suche keine stechenden Dornen, sondern sehe und finde die kleinen, wohltuenden Freuden und Frieden im Herzen.“

Liebe Leser, Vorleser und Zuhörer,
nun wünsche ich allen ein gutes, gesundes Neues Jahr entsprechend dem Mutmach-Gedicht von Hoffmann von Fallersleben: Ein neues Jahr, ein neues Glück! Wir ziehen froh hinein! Und: Vorwärts, vorwärts, nie zurück! Das soll unsere Losung sein."
Ade und Tschüss und alles Gute und viel Freude beim gemeinsamen Lesen, Vorlesen und Zuhören!
Annegret Schildknecht
ehrenamtliche Vorleserin, - Hospizbegleiterin, - Klinikseelsorgerin, -Telefon-Patin gegen Einsamkeit im Alter

Hinweis:
Das COPYRIGHT für die FOTOS liegt bei Dr. Manfred Schildknecht. Alle Beiträge zu meinen digitalen Vorlesestunden siehe hier(bitte anklicken)
oder unter:
www.wochenklick.de/vorlesen

Autor:

Annegret Schildknecht aus Eckental

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