Ein Beitrag der Historikerin Dr. Martina Switalski zum 81. Jahrestag
Die Reichspogromnacht am 9. November 1938
2018 war anlässlich der 80. Wiederkehr der Pogromnacht Carol McKnight aus Vermont / USA nach Eckental gereist, um hier der theatralen Aufbereitung des Schicksals ihrer Urgroßtanten beizuwohnen. Was war ihren Großtanten passiert?
Verzweiflungstat als Vorwand für Massengewalt
Der Tod des deutschen Legationsrats Ernst vom Rath, der vom 17-jährigen Herschel Grynszpan in Paris angeschossen wurde, um gegen die Zwangsdeportation seiner Eltern und weiterer 15.000 Juden aus Deutschland zu protestieren, war bekanntlich von den Nationalsozialisten als Vorwand hergenommen worden, um in einer konzertierten Aktion unzählige Anschläge gegen Juden und jüdische Einrichtungen im gesamten Deutschen Reich durchzuführen. Die Nacht vom 9. November, in der „offiziell“ 91 Tote, 267 zerstörte Gottes- und Gemeindehäuser und 7.500 verwüstete Geschäfte gezählt wurden, nannten die Nationalsozialisten beschönigend „Reichskristallnacht“ – als ob nur Scheiben und ein paar Kronleuchter zu Bruch gegangen wären. Tatsächlich starben während und unmittelbar in Folge der Ausschreitungen weit mehr als 1.300 Menschen. Es wurden mit mindestens 1.400 über die Hälfte aller Synagogen oder Gebetshäuser in Deutschland und Österreich stark beschädigt oder ganz zerstört. Am 10. November wurden mehr als 30.000 männliche Juden in Konzentrationslager verschleppt.
Augenzeugenbericht eines achtjährigen Mädchens
Ria Ulrich hat in dieser Nacht als achtjähriges Mädchen Milch holen sollen und erinnert sich noch gut an die beiden alten Schnaittacherdamen, die im Volksmund „Rosala und Bauline“ genannt wurden. Viele Details ihrer Erzählung, seien es die zerschlagenen Oberlichter, die Bordwände des Fuhrwagens oder auch die Kleidung der alten Damen werden von anderen Zeugen bestätigt. „Und dann sin die drei Männer in des Haus vo dem Rosala und der Bauline – ich wusste damals nit, dass dia a Schnaittacher haaßen. Die Oberlichter hat ma mit Gewehrkolben ein‘schlogn und dann sin die drei Männer im Hauruckkommando gegen die Tür vo dem Rosala und der Bauline grannt. Und der große Mann is in des Haus und is jedenfalls mit dia zwaa Schwestern rauskummer. Und er selber hat noch oben aff seiner SA-Mützen, hat der noch an breitkrempigen, hellen Hut mit Straußenfeder aufg‘habt und dann woar der für mich als Kind natürlich noch amal so groß. Und die zwei Frauen ham immer wieder g‘frogt, was sie getan haben, sie ham doch keinen Menschen wos getan. Und sie woar, wos ma damals sachte, im Nachtgewand [...] mit Betthaubm [...] und sie ham gfror‘n. Und sie ham gebeten, dass ma ihnen wos Warms gibt. Aaner hat ihnen dann wos umg‘hängt und dann ham se die zwei Frauen rausgetrieben mit Tritten und Stoßen und dann hab ich an der Kleinsecken des Lastauto g‘sehen. Und dou woarn schon andere Leut drauf.“ (2008)
Forther Bürger ausgeplündert, eingesperrt, ermordet
Der 47-jährige Viehhändler und Fuhrunternehmer Wolfgang Klein war gebürtiger Forther und von Juli 1933 bis 27. Januar 1934 im KZ Dachau, weil er „beim Reichsbanner technischer Leiter war und bei einem Juden Chauffeur.“ Am Mittwoch, dem 23. August 1950 gab er im Pogromprozess vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth eine bestätigende Darstellung.„Nach meiner Entlassung [aus dem KZ Dachau] kehrte ich nach Forth zurück und blieb da. Die Vorgänge um die Judenverhaftung sind mir erinnerlich. Ich wohne außerhalb von Forth. In der Frühe wurden die Juden verhaftet. Ich war nicht auf. Meine Frau fuhr um ½ 4 in die Arbeit [und kam und erzählte von den Verhaftungen].“ Kundigunde Klein bestätigte dies am nächsten Gerichtstag. „Zwischen ½ 4 und ½ 5 fuhr ich weg […]. Ich mußte am oberen Schnaittacher vorbei, sah, daß ein Auto dort stand, und die 2 Weiber auf dem Auto droben. Es war noch nicht ganz hell. Die eine hatte eine Decke herum und die andere ein Nachthemd oder eine Decke. [Dümmler] habe ich sicher erkannt. Ich habe ihn schon gekannt, als er mit dem Judenlehrer die Attacke hatte. Dümmler hatte braune Uniform an. Die braune Hose hatte er in den Stiefeln. Ich bin mit dem Fahrrad hingefahren. Da hörte ich noch ‚Du mußt hinauf‘ [...] Ich hab nicht mehr genau gehört ‚und wenn du verreckst‘. […] Ich habe meinen Mann verständigt und bin dann zur Arbeit gefahren.“
Der Mann, Wolfgang Klein, stand auf und ging zum Haus seines langjährigen Arbeitgebers Kohlmeier. „Ein Mädchen rief: ‚Hannes, was habe ich dir getan. Ich war doch immer so gut zu dir.‘ Dann hörte ich eine andere Stimme: ‚Verrecken musst du Judenmensch!‘ Ich war etwa 10 m von der Stelle entfernt. Bemerken und sehen konnte ich nichts, weil es dunkel war. Das rief die Rosine Kohlmeier. Wer mit ‚Hannes‘ gemeint war, weiß ich nicht. Ich vermute, dass es Fleischmann Johann gewesen sein könnte. […] Ich stellte mich bei Schnaittacher ans Eck hin. Dann sind wieder welche aufgeladen worden. Es kam ein Lkw. Wer drauf war, weiß ich nicht. Da ist der Ruf erschallt: ‚Rauf musst du Judenmensch und wennst verreckst!‘ Das war Georg Dümmler. Ein Zweifel ist nicht möglich, denn er hat eine Aussprache, die direkt auffällt. Das war im Anschluss an die Bitte der beiden Schnaittacher um ein Kissen. Ich sah nicht, ob sie robust behandelt wurde, weil der Lkw mit der Schnauz nach vorne stand. Das kann ich auf meinen Eid nehmen. Der Dümmler wurde im Dorf ‚Streicher‘ genannt. Ich könnte nicht sagen, dass er als Sprüchbeutel bekannt war. Er hat ein wenig eine große Schnauze gehabt. […] Ich weiß nicht, ob Dümmler auf die Schnaittacher eine Wut hatte; ich denke, weil sie Juden waren. […] Den alten Kohlmeier habe ich nach der Festnahme in Erlangen 4 Tage später getroffen. Da waren die Juden schon auf freiem Fuß. Er hatte mir einen Zettel heraufgeschickt, ich solle ihm etwas zum Anziehen bringen. Ich sagte, ich würde ihm etwas bringen, weil ich ihm nicht sagen wollte, dass alles zerschlagen war. Wir haben einen bei Kohlmeier geplünderten Anzug gekauft und ich habe den Anzug hingebracht. Kohlmeier erzählte mir, dass sie ins Feuerhaus gesperrt worden seien und er habe als Posten dort stehen müssen. Ich weiß nicht mehr, ob er etwas sagte, daß seine Tochter [Rosine] Fußtritte bekommen habe.“
Zur Brutalität dieser Nacht gesellten sich die vollständigen Plünderungen des Folgetages, bei denen sich viele Dorfgenossen bereicherten. Im Pogromprozess von 1950 wurde mehr über die gestohlenen Nähmaschinen gesprochen als über das Schicksal der Menschen, die in dieser Nacht ihre Heimat für immer verließen. Die beiden Schnaittacherdamen, geboren 1870 bzw. 1861 in Forth, verbrachten die Nacht vom 9. auf den 10. November stehend im kalten Erlanger Rathaushof, wurden dann am nächsten Morgen in das Obdachlosenheim in der Erlanger Wöhrdmühle gebracht, um dann am 12.11.1938 in den ehemaligen israelitischen Betsaal in der Eichhornstraße 5 in Erlangen zwangseinquartiert zu werden. Sie wurden von einem Altersheim in Regensburg aus nach Theresienstadt deportiert. Pauline mit dem Transport Nr. II/26-646 und Rosa mit dem Transport Nr. II/26-647 am 24. September 1942. Pauline starb 77-jährig am 10. Oktober 1942, gefolgt von ihrer neun Jahre jüngeren Schwester Rosa am 2. Februar 1943. Seit November 2015 erinnern Stolpersteine in Regensburg an die Deportation der beiden Schwestern. Ihr Haus in Forth wurde arisiert und ist im Besitz der Marktgemeinde Eckental.
Autor:wochenblatt - Redaktion aus Eckental |
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