Amerikanerin erinnert sich an Kalchreuth
Stories „für your wochenblatt”

Die Kalchreuther Konfirmanden 1952 mit dem damaligen Pfarrer Gottlob Müller vor dem Portal der St. Andreas Kirche: Ilse-Dore Eubel (vordere Reihe links) und Fritz Greißinger (2. Reihe 4. von rechts).
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  • Die Kalchreuther Konfirmanden 1952 mit dem damaligen Pfarrer Gottlob Müller vor dem Portal der St. Andreas Kirche: Ilse-Dore Eubel (vordere Reihe links) und Fritz Greißinger (2. Reihe 4. von rechts).
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Dicke Briefe mit US-Briefmarken und Absender „Mrs. Ilse-Dore Pulliam” sind keine Seltenheit im Briefkasten von Fritz und Retta Greißinger in Kalchreuth. Die Amerikanerin, in ihrer Kalchreuther Zeit zunächst noch Ilse-Dore Eubel, pflegt seit eineinhalb Jahren regen schriftlichen und telefonischen Austausch mit ihrem damaligen Volksschul-Klassenkameraden Fritz Greißinger. Beide wurden zusammen mit anderen Kalchreuther Jugendlichen 1952 von Pfarrer Gottlob Müller in der St. Andreas Kirche konfirmiert.

Ilse-Dore Pulliam lebt mit ihrem Mann Gareth in Oklahoma City in den USA. Fritz Greißinger (81), ehemaliger Metzger und lange Jahre bei „Resi-Margarine” und Schöller beschäftigt, lebt noch immer auf dem inzwischen von seiner Tochter Erika und Schwiegersohn Ulrich geführten Bauernhof am Kalchreuther Kreisverkehr. Mit großer Leidenschaft widmet er sich nach wie vor dem Obstanbau und ist begeisterter Sänger im Männergesangverein.

„Bitter Sweet Memories” aus der Nachkriegszeit

Die Wahl-Amerikanerin schrieb ihre Erinnerungen an Kalchreuth nieder. Darin schildert sie aus ihrer damaligen Perspektive Erlebnisse und Empfindungen aus der Schul- und Jugendzeit. „Es ist meine bittersüße Erinnerung an Kalchreuth” erklärt sie in einem Brief. Nach der Vertreibung und Flucht aus Schlesien ist sie über ein Flüchtlingslager in Österreich in Kalchreuth gelandet, wo sie in die Volksschule ging. Die ganze Flüchtlingsfamilie wohnte im Kalchreuther Schloss, der Schlossgaststätte, wo unter anderem eine Arztpraxis und weitere Familien untergebracht waren. In den Kurzgeschichten beschreibt sie entbehrungsreiche Jahre, reduziert auf das Wesentlichste mit erzwungenem Verzicht auf den damals wieder aufblühenden Konsum. Die Flüchtlinge und Heimatvertriebenen waren nach ihren Worten nicht groß angesehen im Ort. Die Schlossbesitzerin (laut Fritz Greißinger war „die Schluß-Andl“ auch „grodooh”) hat sie als böse Frau in Erinnerung. Der Blick zurück handelt aber auch von schönen Erlebnissen, Sehnsucht, Träumen und kleinen Freuden. Kalchreuther Schlagworte wie Rosenwinkel, Kreuzweiher, Forsthaus, Maslas-Saal, Zugfahrten, Hallerschloss und Dr. Reissinger zeugen von einer lebendigen Erinnerung an damals. Das Flüchtlingsmädchen lernte fleißig Englisch und sah als junge Frau einen erfüllten Lebensweg vor sich, der sie mit einem US-Soldaten nach Amerika führte. „Ich habe mehr als ich brauchen kann” bestätigt die Seniorin eine positive Lebensauffassung, gleichzeitig erkennt sie die Zukunftsängste und Sorgen ihrer Landsleute in der Pandemie-Zeit. Ihr Glaube und ihr Gottvertrauen helfen ihr dabei, zuversichtlich zu bleiben.

In sechs Aufzeichnungen hat die Ex-Kalchreutherin rückblickend ihre Gedanken niedergeschrieben. Die längste Erzählung „Verblichener Jasmin” schickte sie mit der handschriftlichen Notiz „damit ihr was zu lächeln habt und für your Wochenblatt”. Darin geht es um den ersten Jugendschwarm des erwachsen werdenden Flüchlingsmädchens, den Förstersohn aus dem Forsthaus in der Nachbarschaft, den sie aus ihrem Mansardenfenster im Schloss beobachtet. Man traf sich heimlich auf dem Hügel hinter dem Rosenwinkel, bis der Kirchweihtanz im „Maslas-Saal” die Träumereien unglücklich beendete.

Die Geschichte „Das schwarze Schaf” ist auch ein Schuldeingeständnis, das die große Armut der Familie verdeutlicht. In „Schwarze Kirschen” geht es beiläufig um die Kartoffelkäferplage. Die Schulkinder mussten seinerzeit die ekligen Schädlinge absammeln. Nachdem ein Bauer einer armen Flüchtlingsfrau allzu grob eine Handvoll Kirschen verwehrte, ersann Ilse-Dore eine kleine Rache: Ihm so viele Kirschen wie möglich wegzuessen, ohne Spuren zu hinterlassen, was mit Genugtuung, aber auch Bauchweh endete.

Als Ilse-Dore Eubel hat sie zusammen mit anderen Kalchreuther Jugendlichen 1952 in der St. Andreas Kirche konfirmiert. In ihren Erinnerungen an Kalchreuth schildert die Wahl-Amerikanerin Erlebnisse und Empfindungen aus ihrer der Schul- und Jugendzeit.

„Das schwarze Schaf“

Es war das zweite Jahr nach Kriegsende. Ehrwürdig und hilfsbereit konnte man Pastor Müller fast täglich auf Dorfstraßen und Landwegen wandern sehen, wenn er Arme und Kranke besuchte, um ihnen Lebensmittel auszuteilen. Als guter Hirte sorgte er für seine Schafe, gab ihnen neue Hoffnung und mit Gebet neue Lebenskraft.

Doch heute abend war er zuhause, um ein Problem zu lösen. Seit vergangenem Sontag gehörte ich zu den schwarzen Schafen seiner Herde. Vier Abende hatte er vergeblich versucht meine Beichte entgegenzunehmen. Irgendwie tat er mir fast leid, denn ich kannte ihn nur als einen tiefgläubigen und demütigen Mann Gottes, der freundlich und hilfsbereit Mitleid und Verständnis für jeden hatte. Zum fünften Male saß ich heute in seinem äußerst sauberen Studierzimmer und fühlte die unsichtbaren Fesseln, die mich auf dem Sünderstuhl festhielten. Heute saß er mir gegenüber als mein Ankläger und Richter. Seine sonst so gütigen Augen hatten sich in Spieße verwandelt, mit welchen er versuchte meine kleine ängstliche neun Jahre alte Seele zu durchbohren, um endlich die Wahrheit über vergangenen Sontag ans Tageslicht zu bringen. Mit stillem Gebet sollte ich den heilgen Geist bitten, mir zu helfen, meine schlechte Tat endlich einzugestehen. Dabei faltete er seine langen weißen knochigen Finger, schloss die Augen und senkte seinen Kopf zum Gebet. Meine Mutter, die neben mir auf einem der schön gepolsterten Stühle saß, folgte seinem Beispiel. Auch ich faltete meine Hände, doch bat ich Gott, mich endlich von dem Sünderstuhl zu befreien und den Abend zu verkürzen. Außerdem fand ich es total überflüssig Gott weiterhin mit meiner Sünde zu belästigen. Er wusste ja, dass ich 10 DM aus dem Opferteller entfernt hatte. Er hatte aber auch meiner Mutter Gesicht aufleuchten sehen, wie das eines Kindes zu Weihnachten, als ich ihr den Geldschein gab und sagte, ich hätte ihn im Kirchhofsand gefunden. Sie hatte mich umarmt und Gott mit Tränen gedankt, weil es genau 10 DM waren, die sie noch zur Mietzahlung für unsere Zweilochzimmerwohnung brauchte. Außerdem hatte die Schlossbesitzerin kein Mitleid für uns, sondern sie hasste uns wie die Pest, dass sie gezwungen worden war, uns als Flüchtlinge des 2ten Weltkrieges Obdach zu geben.

Meiner Meinung nach konnte unser Herr Pastor den heiligen Geist bitten, bis er schwarz dabei wurde. Meine Mutter sollte nie erfahren, dass sie einen Dieb als Tochter hatte. Das würde ich ihr nicht antun. Obwohl ich ihr das Herz damit nicht mehr brechen konnte, denn das hatte mein Vater schon zu oft getan. Doch konnte ich ihr ersparen, die Schande zu tragen. Es war schon genug, mit dem Stempel herumzulaufen, als Flüchtlinge, Eindringlinge und Taugenichts, unerwünscht und verstoßen. Das konnte ich nicht ganz verhindern, doch die größe des Stempels hielt ich in meiner Hand.

Vier Abende hatte ich es geschafft zu lügen, und heute sollte meine Bemühung nicht umsonst gewesen sein. Wie konnte man von mir heute Abend erwarten meine Geschichte zu ändern. Eigentlich hatte ich ja das Geld gefunden, wenn auch nicht im Sand sondern im Opferteller. Und außerdem war es ja schließlich nicht der Herr Pastor, den ich bestohlen hatte, es war ja Gott selbst und der war meiner Meinung nach mächtig und groß genug um sich selbst zu wehren. Er war aber auch gütig und vergebend und hatte mich trotz allem lieb, auch wenn ich gegen zwei seiner Gebote verstoßen hatte.

Ich sah auf das schöne Gemälde, welches über seinem Schreibtisch and der Wand hing. Unser Herr hielt das verlorene Schaf auf seinem Arm und drückte es liebevoll an sein Herz. Er hätte das ungehorsame Lamm mit der Rute zurücktreiben können und einsperren, damit es nicht wieder durchbrennen konnte. Ja, solch eine Liebe hätte mich zu Tränen gerührt und die Wahrheit zu sagen. Wenn man mir wenigstens versprochen hätte, meine Mutter könnte das Geld behalten, würde vielleicht alles anders ausgefallen sein. Doch so hatte er mit mir kein Glück, er vergeudete nur unnütz seine Zeit.

Oft hörte ich nur halb, was der Herr Pastor mir sagte. Das Wort „Wahrheit“ schien er gern und oft zu benutzen. Es entwickelte endlich ein Echo in meiner Kinderseele. Wahrheit und Wirklichkeit, was wusste er schon davon. Er, der im Uberfluss mit guter Schulbildung aufgewachsen war und jetzt Pastor einer Drei-Dörfer-Gemeinde war. Was wusste er schon über Armut, Kälte, Hunger und Heimatlosigkeit? Sein zweistöckiges feudales Haus besaß Teppichbelegten Parkettfußboden, gepolsterte und auf Hochglanz polierte Möbel, er hatte eine Putzfrau und einen Blumen- und Gemüsegarten.

Was wusste er schon über unser Leben als Flüchtlinge, ein Jahr im Lager, in welchem einer den anderen bestahl. Wo man täglich 20 Leute vor dem hölzernen Toilettenhaus abwarten musste. Wo es kein Mittel gegen Kopf- und Kleiderläuse zu kaufen gab und die Bettwanzen überhand nahmen und einen nachts nicht schlafen ließen. Wo man nur eine einzige Schüssel hatte die 4 Personen diente um seinen Köper sauber zu halten, Salat anzumachen, Brot zu backen, Wäsche zu waschen und den Fußboden zu wischen, und das alles auch noch ohne Seife oder Putzmittel um die Schüssel richig säubern zu können. Wenn man mit allem auf das Mitleid anderer Menschen angewiesen war, sein täglich Brot zu verdienen.

Das alles war unsere „Wahrheit“, von welcher er keine Ahnung hatte. Er stand auf der Kanzel und predigte von dem, was er selbst nicht fühlen konnte. Wie gern hätte ich ihm diese Art von Wahrheit ins Gesicht geschrien, nur damit er wusste, welche Wahrheit wichtig und unwichtig war. Doch meiner Mutter zuliebe blieb ich still.

Als ob er nicht selbst sehen konnte, welches Bild der Armut meine Mutter darstellte. Da sie alles für uns Kinder opferte und deshalb selbst keinen Winter­mantel besaß, trug sie anstelle dessen bei kaltem Wetter zwei alte Blusen unter zwei alten Strickjacken. Davon war die eine Jacke gestopft mit verschiedenen Farben von Wolle und die andere besaß verschiedene Farben und Größen von Knöpfen. Oft war es mir nicht klar, ob ich mich schämte oder ärgerte, wenn meine Mutter heimlich von verschiedenen Dorfbewohnern deshalb belacht und bespottet wurde. Ihre Schuhbänder waren die alten Papierschnüre des letztjährigen Weihnachtspackets meiner Tante mit mehreren Knoten. An Armen und Beinen hatte sie dunkle Flecken wie Fingerabdrücke, ein Zeichen von großer Unterernährung, weil sie uns meistens ihr Essen austeilte und sagte, sie hätte bereits gegessen oder sie sei nicht hungrig. Da war die lange Narbe auf ihrer Hand, wo die Axt ausrutschte, als sie bei Mondlicht noch Holz hackte, damit wir eine warme Stube hatten und sie noch etwas kochen konnte, weil sie den ganzen Tag bei einer geizigen Bäuerin nähte und arbeitete, die ihr nur wenig bezahlte. Oft brachte Mutter ihre Näharbeit mit nach Hause, um Nachtschicht zu machen. Sie setzte sich dann immer auf ihren „Thron“, wie sie es mit Galgenhumor nannte, indem sie einen alten Klappstuhl auf den wackligen Biergartentisch stellte, um näher an der 25 Watt Birne zu sitzen, da sie mit der alten Brille nicht mehr so gut sehen konnte. Ihre Nähmaschine hatte sie auf die Flucht nicht mitnehmen können und niemand lieh ihr eine, auch wenn sie auf den Dachböden der Dorfbewohner verstaubten.

Ich überlegte mir, wer die Hauptschuld an allem eigentlich hatte. War es die Regierung, die uns befohlen hatte, unser Haus zu verlassen um am Leben zu bleiben, oder trugen wir Schuld, dass wir gehorchten, weil wir gezwungen wurden. Meiner Meinung nach traf die Hauptschuld der Krieg, der ja kein Mensch war und den man auch nicht verklagen konnte. Wie gerne hätte ich jetzt diesen an mener stelle auf diesem Sünderstuhl sitzen sehen.

Plötzlich wurde ich aus meiner Gedankenwelt gerissen. Es war Frau Pastor, die ihrem Mann nur sagen wollte, das Abendessen werde langsam kalt. Pastor Müller nickte ihr nur zu, nahme seine Brille ab, lehnte sich in seinem Stuhl weit zurück und blickte zur Zimmerdecke, als ob er auf etwas wartete. Nach einigen Minuten stand er auf, sah mich freundlich an und sagte leise ich könnte jetzt gehen. Auf meine Frage, ob ich am nächsten Abend wiederkommen sollte, schüttelte er nur mit dem Kopf. Ich war total überrascht. Ob es der heilige Geist gewesen war der ihn dazu bewegt hatte mir meine Freiheit zu schenken, oder das gute Abendessen dass nicht kalt werden sollte konnte ich nicht feststellen. Es konnte mir egal sein, ich gab ihm meine Hand, sagte leise „Gute Nacht“ und schlich mich zur Tür hinaus. Danach saß ich auf den Pfarrhaustreppen und wartete, bis meine Mutter nachkam. Ich fühlte mich frei wie ein Vogel, nur dass mir die Flügel fehlten.

Später, als Mutter mit mir das Nachtgebet sprach, machte sie nach „und vergib uns unsere Schuld“ eine kleine Pause und ebenso nach „und erlöse uns von dem Übel“. Als sie mich dann umarmte und mir sagte, sie hätte mich lieb, kamen mir die Tränen. Mir war es klar, dass sie alles wusste und der liebe Herr Pfarrer ebenso. Meine Tränen dienten mir zu einem guten Reinigungsmittel meiner Seele.

Vier Jahre danach war meine Konfirmation. Als Pastor Müller seine Hand auf meinen Kopf legte, gab er mir einen besonders geeigneten Spruch mit auf meinen Lebensweg. „Sende Dein Licht und Deine Wahrheit, dass sie mich leiten zu Deiner Wohnung“. Ich glaube, dabei dachten wir beide an die vielen Abende in seinem Studierzimmer und an das schwarze Schaf, welches er versucht hatte, weiß zu waschen. Mir wurde es klar, dass die Liebe Gottes größer und stärker ist als die Farben und Fehler seiner Schafe und er immer weiß, wie es in unseren Herzen aussieht.
Ilse-Dore Pulliam

„Schwarze Kirschen“

Der 2. Weltkrieg war zu Ende. Doch Deutschland hatte einen sehr gefährfichen neuen Feind der sich heimlich in Kartoffelfeldern versteckt hielt und sich unheimlich schnell vermehrte.
Es handelte sich um hässliche bräunliche Kartoffelkäfer, welche unsere gesammte Kar­toffelernte vernichten sollte. Bis unser Land ein Gegengift gefunden hatte, übergab man die Pestkontrolle uns Schulkindern. Zwei mal wöchentlich nahmen wir leere Lebensmitteldosen mit auf die Felder und suchten nach Käfern und deren Eier um sie danach in den Blechdosen zu verbrennen. Jedesmal nach Schulschluss stürmte unsere ganze Klasse den Hügel hinunter um die Kartoffelfelder abzusuchen. Für mich war es jedesmal eine gewisse Heldentat, denn ich fasste keine Insekten mit bloßen Fingern an, wagte mir aber auch keine Handschuhe anzu­ziehen, damit ich nicht zum Gelächter meiner Klassenkameraden wurde. Wir teilten uns dann jedesmal in Gruppen von zwei pro Feld auf. Ich hatte dieses eine mal ein ganz bestimmtes Feld für mich und Emma gewählt. Zwischen den langen Kartoffelfurchen wuchsen riesige Kirschbäume, deren Äste dieses Jahr schwer beladen mit grossen dunklen und saftigen Kirschen schwerbeladen fast den Boden berührten. Ich konnte mich noch so gut an diesen Acker von vergangenem Jahr erinnern, als ich mit meiner Mutter vorbeiging um im Wald Kleinholz und Pilze zu suchen. Der Bauer stand auf seiner Leiter um Kirschen zu pflücken. Eine Flüchtlingsfrau aus dem Dorf stand und hielt ihre Tasche auf indem sie den Bauern bat ihr doch ein paar Hände voll Kirschen zu geben. Zuerst tat er als höre er sie nicht, doch als sie nicht abließ ihn zu bitten, schimpfte er auf sie und gebot ihr, seinen Kirschgarten zu ver­lassen. Die Frau die sehr arm war und außerdem viele Kinder hatte kniete sich neben die Leiter auf die Erde und bat ihn unter Tränen, ein Herz für sie und ihre Situation zu haben.

Das machte den Bauern nur noch wütender und er schrie sie endlich an, dass wenn sie ihn nicht in Ruhe ließe, er seinen Hund rufen würde um sie rauszujagen. Meine Mutter war zu Tränen gerührt und ich war am überlegen, wie ich ihm sein kaltes Herz belohnen könnte. Es gab keine bessere Gelegenheit als diese und ich nahm mir vor, mit Emma so viele Kirschen verschwinden zu lassen, wie es uns nur möglich war. Das Schwierige an meinem Plan war, dass Emma an ihre nächste Beichte dachte. Es war nicht leicht sie zu beeinflussen. Doch als ich ihr erzählte was für eine gute Kartoffelernte der Bauer durch uns haben würde und wie wir seine schönen Äste vom Brechen hindern und wir außer­dem nach Schulschluss hungrig waren, ließ sie sich überreden. Somit machten wir uns über die Kirschen her und aßen mit solchem Heißhunger, dass wir uns keine Zeit dazu nahmen, die Kerne auszuspucken. Es dauerte nicht lange, als wir durch das Bellen eines Hundes dabei gestört wurden. Schnell griffen wir zu unseren Büchsen um dem Bauern der uns plötzlich gegenüberstand, zu beweisen, wie fleißig wir waren. Er suchte die Furchen um den Baum nach Kirschkernen ab, doch er konnte nicht finden, was wir mitgeschluckt hatten. Jedesmal wenn ich mich zu sehr bückte wollten die Kirschen hochkommen. Er lobte uns dann und meinte, wir dürften als Lohn einige Kirschen am Schluss essen. Emma und ich waren froh, als er endlich weiterging. Bevor wir uns auf den Heimweg machten, stopften wir uns noch die Schürzen­ taschen voll, denn unsere Bäuche taten weh und hielten nichts mehr. Ich fühlte mich wie der böse Wolf im Märchen, der 6 Geislein verschluckt hatte. Langsam schleppten wir uns den Hügel hoch. Irgendwie tat mir Emma leid, dass ich sie dazu benutzt hatte.

Doch es war zu spät die Sache rückgängig zu machen Es war am späten Nachmittag, als ich zu­ hause ankam. Meine Zehen schmerzten von den Amerikanischen Roten Kreuz Schuhen, die sicherlich einst zierlichen Füßen gehört hatten. Ich schlüpfte aus den engen Schuhen und entdeckte einige neue Blasen. Lautlos ging ich die Treppen hoch. Die Schlossbesitzerin hasste laute Kinder, doch mehr als das hasste sie uns Flüchtlinge. Ich konnte sie in meiner Erinnerung immer noch laut schreien und fluchen hören, als uns der Bürgermeister damals nach Kriegsende zwei winzige Zimmer als Wohnung in der Nähe des Dachbodens zuteilte. Seit der Zeit waren wir ein Stachel in ihren Augen und eine Pest, die sie nicht beseitigen konnte. Der mit Kacheln ausgelegte große Flur des ersten Stockwerkes war kalt und fühlte sich wohl an unter meinen heißen schmerzenden Füßen. Ich sah, dass jemand die Schlafzimmertür unserer Hauswirtin neu getüncht hatte. Der frische Anstrich glänzte in grün und gold, den traditionellen Farbtönen der ehemaligen Hallerfamilie, welche dieses Schloss im dreizehnten Jahrhundert gebaut hatte. Die Schlüssellöcher im Schloss waren noch in ihrer originalen Größe geblieben, sodass man fast ein halbes Zimmer sehen konnte. Dies hatte aus der Besitzerin einen Schlüssellochspion gemacht. Deshalb kannte sie alle Einzelheiten über das Leben der Bewohner. Ich war fast an der Tür vorbei als ich an die Kirschen in meiner Schürzentasche dachte und den Einfall bekam, sie ihr als Geschenk zu hinterlassen. Auf Zehenspitzen schlich ich mich an die Tür. Ich machte die Stiele der Kirschen ab und presste die erste tief in das Schlüsselloch. Es war für die vielen Jahre, die sie uns beschimpft, verflucht und gedemütigt hatte. Die nächste Kirsche war für all ihr spionieren, um das Leben der Bewohner zu beschmutzen und die dritte und größte schwarze Kirsche war für jeden Morgen, an welchen ich die Treppe herunterfiel und vor ihrer Schlafzimmer-tür auf den harten Steinfliesen landete. Mit Schmerzen lag ich da und hoffte, jemand würde kommen um mir aufzuhelfen. Aber es war sie die aus ihrem Schlafzimmer kam und sich über mich beugte. Anstatt mir aufzuhelfen, beschimpfte sie mich wegen dem gemachten Lärm, hatte ihre Hände in die Hüften gestützt und zeigte mir ihre Zunge, wie ein unartiges dummes Schulkind. Meine Wut über ihr Benehmen brachte mich auch beim größten Schmerz auf die Beine. Nachdem ich meine Schulsachen zusammengesammelt hatte, schlich ich dann den letzten Stock hinunter. Erst nachdem ich die Haustür hinter mir zuge­macht hatte, lehnte ich mich gegen die Hausmauer und heulte wie ein Schlosshund. Meine Schmerzen sollte sie nicht sehen, die Genugtuung gönnte ich ihr nicht. Eines Tages würde ihr Hass und ihr Geiz die Beleuchtung der oberen Stockwerke zu verhindern, vielleicht mal selbst zum Verhängnis werden. Meine drei Kirschen sollten sie daran erinnern. Ich warf einen kurzen prüfenden Blick auf meine Leistung. Der dunkle Kirschsaft lief über die noch frischen Farben. Ich war zufrieden.
Am folgenden Tag erfuhr ich, dass man das gesamte Türschloss erneuern musste, da man die Kirschkerne nicht ganz entfernen konnte. Außerdem musste die Tür zum zweiten mal gestrichen werden. Ich nahm an, dass die Schlossbesitzerin ahnte wer der Sündenbock gewesen war, doch hatte sie keinerlei Beweis. Meiner Meinung nach hätte es ebensogut eines der Kinder sein können, die als Patient den Dorfarzt aufgesucht hatten, dessen Praxis auf der anderen Hälfte des gleichen Stockwerkes lag. Einige Jahre waren seitdem vergangen. Ich feierte meinen dreizehnten Geburtstag. Unsere Schulklasse hatte Konfirmation. Zum ersten Mal durften wir an Beichte und Abendmahl teil­nehmen. Das war der Tag an dem mir Gott traditionell alle meine Sünden, die ich bisher mit mir herumgeschleppt hatte, vergab. Ich dachte unter anderem auch an den herrlichen Kirsch­tag und meine bösen Taten. Den Bauern gabs nicht mehr, der lag bereits im Friedhof und bei unser hässlichen Schlossbesitzerin hatte sich nichts geändert. Doch machte ich Gott ein Gelübde und versprach ihm, dass ganz egal wie hässlich in Zukunft Menschen zu mir sein würden, ich die Vergeltung ihm überlasse. Und ich muss sagen, dass in all den vielen Jahren meines Lebens ich mich damit auf Gott verlassen konnte. Er hat für mich gekämpft …in seiner Zeit …auf seine Art und Weise … und hat mich nie im Stich gelassen und hat niemals schwarze Kirschen dazu verwendet.

„Dr. Reissinger, unser Landarzt”

Als ich mit siebzehn den ganzen Sommer lang meine Füße mit den neugekauften Stoeckel­schuhen aus weinrotem Wildleder, die ich über alles liebte und die zu allem passten, genug gequält hatte, schmerzte mich eine meiner Fersen. Endlich entschloss ich mich, unseren Dorfarzt aufzusuchen, bei dem ich schon Jahre nicht mehr in der Praxis gewesen war. Als Kind kam ich zu ihm gerannt, zweimal ging es um meine Fingerkuppe, die ich mir beim Holz­hacken fast mit weghackte hatte,ein anderes mal war mir die Säge ausgerutscht und danach hatte ich einen vereiterten Daumen. Jedesmal war er mein Helfer in Not, doch als ich älter wurde, versuchte ich ihn nicht mehr mit meinen Problemen zu belästigen.

Die ganze Angelegenheit war mir äußerst peinlich, als ich mich, da wir im gleichen Schloss wohnten, in meinen alten Hausschuhen die Treppen hinunterschlich und am Ende der Sprech­stunde im Wartezimmer saß. Er kam, um die Fenster des Warteraumes zu öffnen, und sah mich sitzen wie einen armen Sünder. Er schien erstaunt, lächelte höflich wie immer und fragte, ob ich mich wieder in den Finger gehackt hätte. Ich schüttelte mit dem Kopf und sagte, mir schmerze meine Ferse, dann setzte ich mich, wie ich es als Kind gewöhnt war, auf seinen Liegetisch.
Er bat, mich mit dem Gesicht nach unten hinzulegen, damit er sich das ganze gut besehen koennte. Ich fand das ganze unnötig, doch ich tat wie er sagte. Er stand eine Weile und dachte nach. Meiner Meinung war es ein Überbein, doch ich war mir nicht sicher. Ich wartete auf seine Meinung und Hilfe, denn der Winter stand vor der Tür und ich konnte keine Sandalen mehr zur Linderung der Schmerzen tragen. Plötzlich hatte er eine Idee. „Wie moechtest du es entfernt haben, mit der Axt, oder mit der Säge?” fragte er mich. Ich hob etwas meinen Kopf um ihn anzusehen. Er stand an seinem Schreibtisch und blätterte in einem Stoß Post. Dabei hatte er mir den Ruecken zugekehrt, doch konnte ich merken, dass er versuchte sich das Lachen zu verhalten. Ich ärgerte mich, dass ich mir überhaupt gewagt hatte ihn nach so vielen Jahren aufzusuchen. Leise schlüpfte ich in meine Haus­schuhe und schlich mich zur Tür hinaus, während ich ihn fragen hörte, er warte auf meine Entscheidung. Das tat ich dann auch, ich ließ ihn warten indem ich halb beschämt, halb gekränkt die Treppen zu unserer Wohnung hochkinkte.

Sah ich ihn manchmal im Dorf, biss ich meine Zähne zusammen und hörte auf zu hinken. Für die kurze Zeit unserer Begegnung war mein Stolz größer als mein Schmerz. Doch konnte ich mir gut vorstellen, dass er jedesmal innerlich lächelte, weil er genau wusste, dass mein Problem von zu engen Schuhen kam und im laufe der Zeit von ganz allein vergehen würde. Und so war es dann auch. Obwohl man im Laufe des Lebens vieles vergisst, habe ich diese Begebenheit gut im Ge­dächtnis behalten. 
Ilse-Dore Pulliam

Die Kalchreuther Konfirmanden 1952 mit dem damaligen Pfarrer Gottlob Müller vor dem Portal der St. Andreas Kirche: Ilse-Dore Eubel (vordere Reihe links) und Fritz Greißinger (2. Reihe 4. von rechts).
Altlandwirt Fritz Greißinger, Obstbauer mit Sachverstand und Herz, steht in Kontakt mit seiner Mitkonfirmandin. | Foto: Georg Heck
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wochenblatt - Redaktion aus Eckental

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